Theaterarbeit, Theaterpraxis im Wechselspiel von Natur und Geselligkeit

Ich will eine Reihe von Verbindungslinien, Wechselwirkungen oder Wechselspielen zwischen Natur, Geselligkeit und Theater vorstellen, die das Machen von Theater, also die sog. Theaterarbeit ,  –praxis und/oder -pädagogik betreffen – die das Erleben, Erfahren, auch Erleiden, das Üben/Trainieren, also das Wie des Prozessierens im Feld des Theatralen in den Mittelpunkt stellen. Es begleiten mich dabei Anregungen historischer, kultureller und theatergeschichtlicher Art von Lambert Blum, mit dem ich im März 2005 korrespondierte, und die ich in meinen Text eingebaut habe.[1] Vielleicht und hoffentlich bietet das Stöbern im Text Inspiration, der Natur im Theaterspiel gesellig zu begegnen und die Gesellschaft aktiv in die Symbiose von Theater und Natur einzubeziehen.   

Natur und Theater

Gibt man die Begriffe „Natur“ und „Theater“ in eine Suchmaschine ein, dann werden zu allererst bzw. fast ausschließlich Hinweise auf das sog. Freilicht-, Freilufttheater gegeben. Theater wird dort in der sog. freien Natur gespielt, sei es in Bodenmulden als natürliches Amphitheater, sei es in in die Landschaft eingebaute Bühnenkonstruktionen oder auch im Umfeld historischer Bauten.

Das „Walderlebniszentrum Tennenlohe“ bei Erlangen bietet beispielsweise an, mit Schüler*innen ab der 3. Klasse „ein eigenes Theaterstück (zu erfinden), in dem Bäume und Tiere die Hauptdarsteller sind“. Weiter erklärt die verantwortliche Försterin Martina Amann: „Danach führen wir es auf unserer Freilichtwaldbühne auf. Die Kinder entwickeln Phantasie und Kreativität im Umgang mit dem ‚Stoff’, den die Natur ihnen bietet.“[2]

Sogenanntes Volkstheater findet häufig unter freiem Himmel statt. Namentlich in der Schweiz ist diese Tradition äußerst virulent: Ganze Dorfgemeinschaften mit ihrem Tierbestand sowie Feuerwehrvereine und Teile des Heeres stehen zur Verfügung. Gespielt wird häufig in und auf Gebieten, die historisch für die Einigung der Schweizer Kantone wichtig gewesen sein sollen – wenn nicht gar Schillers „Wilhelm Tell“ inszeniert wird. Solche Veranstaltungen oszillieren zwischen Volksfest und Weihespiel – freier Mensch auf freiem Boden. Sie werden durchaus im Kontext eines Tagesablaufs in Szene gesetzt.

Immer wieder werden auch bebaute und unbebaute Räume zu metaphysisch aufgeladenen Mitspieler*innen. Innerhalb des deutschen Faschismus wurde bis Mitte der 30er Jahre versucht, das sog. Thingspiel, eine (pseudo-)germanische Eigenart des öffentlichen Rechtsprechens und Inszenierens von Lehrhaftem, in der sog. Natur zum Leben zu erwecken. Diese Form völkischen Spiels unterlag der Beton- und Menschen-Massen-Inszenierung der Reichsparteitage, Sportpaläste und ähnlicher Räumlichkeiten.

Im Naturgelände durchführbar wäre auch solche Übung: Alle Teilnehmenden suchen sich einzeln einen Ort, in den sie sich „implantieren“, so wie sie gerne von den anderen gesehen werden möchten, sich selbst sehen wollen oder wie ihre Stimmung ist. Dann geht die Gruppe herum und sieht sich die Statuen an, macht vielleicht Fotos.

Es gibt unzählige Möglichkeiten Theater und Natur zu verbinden. Für Lambert Blum ist Natur in seiner Theaterpraxis immer ein kulturelles Konstrukt. Jeder Park ist eine Inszenierung von Gehen und Bewegen, also eine Choreographie verbunden mit Empfindungen und vor allem visuellen Wahrnehmungen. Nach seiner Ansicht muss es extra hergestellte Räume geben, innen wie außen, die verschiedene Erfahrungen zulassen. Eine Verbindung der Begriffe „Natur“ und „Landschaft“ kann hier nahegelegt werden, was dann mehr als der Nahbereichs-Milieu-Begriff „Umwelt“ anzeigt: „Denn es braucht ihrer drei, um eine Landschaft zu einer solchen zu machen: eine Singularisierung, die etwas Individuelles hervorholt, das dem ‚Existieren‘ förderlich ist; eine Variation, die die Vitalität nicht nur deshalb aktiviert, weil sie sie unter Spannung setzt, sondern auch, weil sie Austausch und Wandel bewirkt; die Ferne schließlich, die eine Fluchtmöglichkeit schafft und zum Über-sich-selbst-Hinauswachsen einlädt. Diese Ferne produziert Erweiterung, verlängert, ruft dazu auf, weiter hinauszuschieben; sie macht ungenau, lichtet, klärt, öffnet hin zu Unbestimmtem und Unendlichem.“[3]

Lambert Blum versteht seinen site-specific-Ansatz allgemein „als Sichtbarmachen eines alltäglichen, also auch natürlichen Raums mittels Inszenierung“. Er schreibt, „… ob es mit Theater möglich ist, wage ich zu bezweifeln, aber mit performativen Implantationen möglicherweise“. Blum trennt zwischen Theater in einem engeren Sinne und performance als einer „paratheatralischen Erscheinungsform …, (die) sowohl die darstellenden Künste wie Tanz, Oper, Kino, Pantomime, Zirkus usw. als auch öffentliche Aktivitäten, an denen ein Publikum teilnehmen kann wie Sport, Spiele, Rituale“ (umfaßt). Zu diesem Zweck scheinen Begriffe wie das französische „spectacle“ oder die angloamerikanische „performance theory“ geeigneter, die strukturellen Gemeinsamkeiten dieser so verschiedenen Phänomene herauszuarbeiten.“[4]

Natur, Theater und Geselligkeit

Natur ist „natürlich“ auch Thema, Stoff in Theaterstücken – etwa in frühen Singspielen, in Schäferspielen. Der erste Theaterwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, Wolfgang Baumgart (gest. 2000), wurde 1935 in Heidelberg mit einer Arbeit über den „Wald in der deutschen Dichtung“ promoviert. Es spielen die Naturgewalten als Realität oder als Metaphorik für menschliche Innenwelten und Gefühle mit. Die literarische und künstlerische Strömung des Naturalismus hat diesen Bezug explizit im Begriff selbst – mit ihren zur damaligen Zeit modernen Elementen der möglichst exakten Wirklichkeitserfassung von Räumlichkeit, Körperlichkeit, materieller Stofflichkeit und sog. Richtigkeiten in Farbe, Form und Anatomie.

Felder, Räume und ihre Dynamik verbinden Natur mit Geselligkeit. Hierzu ein historisches Beispiel: Als in Dresden–Hellerau das Festspielhaus durch Adolphe Appia entworfen wurde, war es ein leerer, riesiger Raum, der mit indirektem Licht ausgeleuchtet wurde. Seine Raum-Qualität und seine Qualität als gestaltete Lebens- und Kunstwelt bekam er dadurch, dass er mittels Musik und Körperaktionen zu einem „rhythmischen Raum“ wurde.  Das Publikum trat „auf einer Mittelachse über das Hauptportal ein, konnte hindurch gehen und nach hinten durch eine kleinere Tür … in den Park; der innere Raum war Teil des äußeren Raumes oder sie standen in Beziehung“. So beschrieb es mir Lambert Blum. Barocke Theaterbauten übrigens kannten auch eine Bühnentiefe, die sich ganz weit nach hinten in einen Schlossgarten etwa öffnen konnte.

„Der Bühnenraum erweist sich … als offener, unbegrenzter Raum. Indem Appia den Terminus ‚Rhythmus’, der ursprünglich aus der Musik kommt, mit dem architektonischen Raumbegriff verband, ordnete er ihm eine neue Qualität zu. Appia teilte mit der Formulierung ‚Rhythmische Räume’ dem Raum selbst eine Gesetzmäßigkeit von Bewegung zu, einen Prozeß auf ein bestimmtes Ende hin – der Raum wird damit verzeitlicht. Der ‚Bewegungsraum’ erhält eine ‚Raumzeit’. Mit Appias ‚Rhythmischen Räumen’ emanzipierte sich die Bühnendarstellung auch vom Mimesis-Konzept. Es ging in diesen Räumen nicht mehr um Nachahmung, Einfühlung und Repräsentation, sondern um Konstruktion von künstlerischen Räumen, die nichts außer sich bedeuten“, erklärt Marianne Streisand.[5] Hier bleibt der Raum abstrakt, aber die „freie Raumsituation“[6] wird durch menschliche Körperlichkeit dynamisiert. „Die Realität eines Baus besteht nicht“, so beobachtete schon der chinesische Philosoph Lao Tse, „aus Mauern und Dach, sondern aus dem Raum, in dem man lebt.“

Ein anderes Beispiel ist das aus dem alternativen und politisch linken Straßen- und Volkstheater kommende teatro officina aus São Paulo (Brasilien). Es hat eine feste Spielstätte, die der Situation der öffentlichen Straße mit Straßenpflaster und Bürgersteig nachempfunden ist; das Publikum schaut aus Galerien, die wie Fenster und Balkone in der Häuserzeile zu verstehen sind. Und diese Theaterstraße kann zur belebten „paulistischen“ Straße, an der das Theater liegt, durch das Öffnen des großen Eingangstors des Theaterhauses geführt werden, so dass „(d)ie Natur der Stadt“[7] in das Theaterraum-Geschehen einfließen kann – mit Geräusch, Geruch, Passantenbeteiligung und in „Echt-Zeit“. So kann das Theater-Theater in das Straßen-Theater, das einer anderen Regie unterliegt, überführt werden.

Der Fluxus-Künstler Wolf Vostell (und andere) nennt in den 1950er/60er Jahren die Straße seine Bühne, die Bühne für seine Kunst, seine sog. happenings – also Geschehnisse. Die Straßen von Paris mit ihren Plakatwänden und den zerrissenen, fragmentarisierten Informationen sind ihm Bühne, Bühnenbild, Bühnenraum und Text. Das alles fordert ihn auf, darin ebenso widersprüchlich, provokativ und impulsiv zu handeln. Eine szenische Kultur, eine gesellschaftliche Theatralität als Verhältnis von anderen Schau-Elementen etwa realisiert sich – wird Teil einer geselligen Natur der Stadt.[8]

Auf einer sozialpolitischen Folie sind Formen des sog. community theatre, eines Gemeinwesen-Theaters, entstanden. Wir müssen uns im Deutschen mit dem altertümelnden Wort Gemeinwesen behelfen, weil uns die Begriffe community, Kommunität und Kommune nicht so geläufig sind. Community theatre als Stadtteiltheater will Partizipation, Selbstartikulation der Bürger*innen im und am öffentlichen Prozess ermöglichen. Es ist eine Problemwahrnehmung und -fixierung,  Recherche, ästhetische Gestaltung, Intervention und Reflexion im Gruppenzusammenhang. Die Akteur*innen sind zugleich gesellschaftlich wie künstlerisch in Tätigkeit. Gesellschaftliche Übereinkünfte und Arbeitsteilungen werden für eine gewisse Zeit aufgehoben; gegen sozio-kulturelle Normen und als natürlich angesehene Strukturen wird verstoßen.[9] Auf einer gruppendynamischen Folie, gewissermaßen im Kleinformat, hat sich seit Jahrzehnten die Form des sog. Mitspieltheaters entwickelt: Es behält die Arbeitsteilung von professionellem Schauspielertum und interessierten Zuschauern bei, lässt das Publikum aber intervenieren, auch den Stoff variieren.

Politisierte Geselligkeit, gesellschaftliche Produktivität – eine Produktion des Sozialen geschieht auch durch das Forumtheater nach Augusto Boal als eine szenische Diskussionsform und ein Probehandeln, das in lateinamerikanischen aber auch europäischen Bürgerrechtsbewegungen eine Rolle spielt.[10] Hier werden Proben aufs Exempel gemacht, ein „Theorie-Praxis-Manöver“ findet statt, wie Ernst Bloch Bertolt Brechts Ansatz des Lehrstückspiels, das besser Lernstückspiel, learningplay (Brecht) heißt, recht genau bezeichnete.

Räume werden als Herausforderung verstanden, um in ihnen auch anderes, als das, was man erwartet, stattfinden zu lassen. Es findet eine Mischung zwischen dem Regelgebrauch und dem abweichenden Gebrauch statt – ein schleichendes, die Zuschauerinnen irritierendes Wechselspiel zwischen erwarteter Banalität und inszenierter Verstärkung und – in Brechtscher Terminologie gesagt – Verfremdung.[11] „Aufgemischt“ werden sowohl die Räume wie die Wahrnehmungsweisen der zuschauend Beteiligten (Brecht spricht von der Notwendigkeit der Entfaltung einer Zuschaukunst).

*

Ich breche hier meine Erzählung, meine „Reportage“ aus der theatralen, performativen Feldarbeit vom Wechselspiel von Natur und Geselligkeit im/mit Theater ab – mit einem Ausblick in eine indigene afrikanische, soziale Praxis, in der eine „Natur der Geselligkeit“ verbunden mit Geselligkeit in Natürlichkeit aufscheint:

Die Theaterpädagogin und ethnologische Feldforscherin Angelika Wehr-Koita beschreibt auf ihrer Webseite eine alte westafrikanische Kultur von Bauern (Bambara, Mali): „Zur Stärkung des Zusammenhalts und zur Lösung von Konflikten wurde in westafrikanischen Dorf- und Familiengemeinschaften über Jahrhunderte eine Form des traditionellen Dorftheaters genutzt, das Rhythmus, Ritual, Interaktion und Komik ins Zentrum stellt: „Koteba“. Das Koteba-Theater ist eine beeindruckende Möglichkeit von gelungener gesellig-gemeinschaftlicher Kommunikation und Erhaltung sozialen Friedens. Koteba ist eine Sprache, mit der sich die Bambara verständigen, mit der sie sich ausdrücken und ihr soziales Leben ordnen und organisieren. Innerhalb eines begrenzten Spielraumes, in dem Ernst und Spaß sich verbinden, wird ein Ventil geschaffen, um Spannungen abzubauen und in komischer Form Defizite in der Gesellschaft zu thematisieren. Also: Von Afrika lernen! „Natur – Theater – Geselligkeit“: Eine prismatisch-demokratische Praxis! Wir brauchen allenthalben öffentlichen Raum und gestaltbare, wandelbare, lebendige Zeit, um das Wechselspiel von Natur (leiblich, psychisch, sozial und physisch) und Geselligkeit in Freiheit auszudrücken und zu inszenieren!

PS: Die genannten Beispiele erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit noch Aktualität. Sie waren schlicht in meiner Arbeit während der Entstehungszeit des ersten Textentwurfs präsent. Heute ließe sich ein deutlich diverserer Überblick erstellen. Davon erfahre ich gerne!

*Der hier vorgelegte Text beruht auf meiner Fassung von 2005, die aktuell lektoriert wurde durch Dr. Julia Lieth. Für ihre konstruktive Fachlichkeit bedanke ich mich sehr!

[1] Lambert Blum arbeitete in Berlin und war in Brandenburg am Bildungsprogramm des LISUM (Sommerakademie) aktiv. Und: Ab 2010 führten Lambert Blum, Dr. Ulrike Hentschel (UdK Berlin-Professorin i. R.) und ich eine „wandernde“ (gesellige) Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Berliner Gespräch zur Theaterpädagogik“ an recht unterschiedlichen Orten mit sehr verschiedenen „inputs“ und Referent*innen durch, um Information und Resonanz zu erzeugen, auch und gerade dort, wo es  gar nicht oder nicht regelmäßig erwartet wird.

[2] Siehe http.//schule.vgn.de/de/umwelt/lebensraeume/nat5/ …: Unter dem Slogan “Pauk & Ride“ angezeigt.

[3] Francois Julien: Von Landschaft leben oder Das Ungedachte der Vernunft“. Berlin 2016, S. 165.

[4] Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hrsg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991, S. 649.

[5] Marianne Streisand: Theaterraum und Archäologe der Theaterpädagogik, in: Gerd Koch u. a.: Theaterarbeit in sozialen Feldern/Theatre Work in Social Fields. Frankfurt am Main 2004, S. 75 f.

[6] Dies. S. 73.

[7] So der Buchtitel der Soziologin Heide Berndt (Frankfurt am Main 1978).

[8] Der Soziologe Dirk Baecker schrieb im April 2003 für das Theater-Kombinat Hebbel am Ufer (HAU) einen Text mit dem hier passenden Titel und Inhalt: „Die Stadt, das Theater und die Naturwissenschaft der Gesellschaft“

[9] Vgl. Anne Kehl: Auf unsichtbaren Bühnen – Forschendes Theater im Stadtteil. Bremen 2004.

[10] Vgl. Helmut Wiegand (Hrsg.): Theater im Dialog: Heiter, aufmüpfig und demokratisch. Stuttgart 2004; lebendig und engagiert dazu: Michael Wrentschur: Theaterpädagogische Wege in den öffentlichen Raum. Zwischen struktureller Gewalt und lebendiger Beteiligung. Stuttgart 2004.

[11] Vgl. Gerd Koch: Die Methode der Verfremdung, in: Gerd Koch u. a. (Hrsg.): Herausforderung. Umwelt. Frankfurt am Main 1985, S. 151 ff.