„We’re getting closer to each other …“
– Geselligkeit als Weltsprache
Zu Gast beim 16. Welt-Kindertheater-Fest
Der Himmel ist bewölkt, ein Knistern liegt in der Luft, die Vorfreude ist groß. Bunte Kostüme, lautes Lachen, leises Flüstern, freudige Wiedersehensbegegnungen. Letzte Regieanweisungen schweben über den Lingener Marktplatz im Emsland. Endlich geht es los. Die offiziellen Gruß- und Dankbotschaften werden mit steigender Publikumsnervosität verfolgt, es folgt ein buntes Willkommensprogramm der Lingener Theater- und Akrobatikjugend. Dann sind die teilnehmenden Theatergruppen aus 15 Nationen und 5 Kontinenten an der Reihe. Sie stürmen die große Marktplatz-Bühne und präsentieren sich und ihr Land laut und fröhlich vor internationalem Publikum. Mit Trommeln und Musik geht’s dann in einem bunten Umzug durch die Innenstadt zum Festivalgelände. Ab jetzt liegt das 16. Welt-Kindertheater-Fest für eine Woche in ihren Händen. Nach dem lauten Eröffnungsspektakel fühle auch ich mich leicht euphorisiert und freue mich darauf, mit alten und neuen Bekannten auf den Festivalbeginn anzustoßen.
Die gute Stimmung setzt sich in den nächsten Tagen fort, wenn in der Warteschlange vor Beginn der Vorstellungen ein bunter Mix aus Menschen und Nationen steht: Theaterexpert*innen neben Theaterneulingen, Alt neben Jung, Griechenland neben Brasilien, Armenien neben Uganda, Lingener*innen neben Berliner*innen. Die Sprachen vermischen sich, Blicke werden getauscht, Worte, Gestik und Mimik verschwimmen und münden in Verabredungen zur nächsten Aufführung, zum Familiennachmittag oder zum Kaffee am Nachmittag und Bier am Abend.
„We’re getting closer to each other by opening up our hearts”, heißt es im fröhlichen Festivalsong „It’s about us”. Und genau darum geht es hier: über das Theaterspiel zusammenrücken, sich näher kennenlernen, einander zuhören, die Herzen öffnen. Das gilt für die Kinder ebenso wie für die Erwachsenen, die nach den Theateraufführungen oder dem Besuch des Spielleiter*innen-Forums bei Wasser, Bier und Wein im Festivalpark die Köpfe zusammenstecken und die Stücke oder Diskussionen reflektieren.
Sprachfetzen: „Ich war beeindruckt, mit welcher körperlichen Ausstrahlung und in welchem Tempo die brasilianische Gruppe ihre Geschichte ,Ecos de Favela‘ in ihrem speziellen Mix aus Theater und Capoeira erzählt hat.“ „Mich hat die beinahe philosophisch inszenierte Tiefe der armenischen Aufführung berührt, die live gespielte Cello-Musik hat die Bilder auf besondere Weise verstärkt.“ „Was für eine Stille nach der ukrainischen Performance, die mit Elementen aus Schatten- und Bewegungstheater ihre persönlichen Erlebnisse nach dem Kriegsausbruch so kraftvoll visualisierten.“
Fotos: Katrin Kellermann & BDAT
Von den intensiven Impressionen nach den Aufführungen über den Austausch zur Herangehensweise an ein Stück geht es an den langen Bierzelttischen im Festivalpark unter der Abendsonne schnell über auf eine persönliche Ebene. Opa und Enkel aus Österreich sitzen zwischen der Grande Dame des deutschen Kindertheaters und dem Festivalinitiator, daneben nationale und internationale Theaterexpert*innen, Festivalorganisator*innen und Freund*innen von Freund*innen. Man hat sich länger nicht gesehen, aber viel zu erzählen. Das Welt-Kindertheater-Fest ist nicht nur ein Schmelztiegel der Nationen, sondern auch der alten und frisch dazugewonnenen Freundschaften und Bekanntschaften. „Wie geht es dir, was machst du gerade? Was denkst du über …?“
Ein Teil der Runde tauscht sich später auch darüber aus, wie die vor allem ehrenamtlich organisierte Theaterarbeit weiter Bestand haben kann in diesen Zeiten; dass die Finanzierung für die Künste – auch angesichts der Weltlage – immer schwieriger wird, weil Prioritäten anders gesetzt werden. Ob es Lösungen gibt? Es wird wohl noch schwieriger werden, deshalb muss die Bedeutung des Theaters und solcher Festivals für unsere Gesellschaft und für das internationale Miteinander immer wieder mit aller Kraft herausgestellt werden. Darin ist man sich schnell einig.
(Exkurs. Einladung an Tagesschau, Tagesthemen und Co.: Macht doch am Ende der Nachrichten regelmäßig einen positiven Aufhänger, z. B. vom Welt-Kindertheater-Fest in Lingen, dann würde z. B. auch Zamperonis „Bleiben Sie zuversichtlich!“ nachhaltig wirken).
Im Festivalsong heißt es: „It’s about us, it’s about you and me. One world united, in peace we’ll be free.“ Die Utopie eines friedlichen Zusammenlebens, des gegenseitigen Respekts wird in vielen der hier gezeigten Performances thematisiert, kommt aber auch auf dem Festivalgelände zum Ausdruck. Ich mache einen Spaziergang durch den Festivalpark „Youtopia“, mit kleinen Länderpavillons, in denen die Gruppen ihre Heimat vorstellen. Hier werden auch kleine Souvenirs verkauft oder verschenkt: bunte Taschen und Trommeln aus Uganda, besondere Postkarten aus Indonesien, Give-aways aus aller Welt. Hier ist man ganz nah an den jungen Darsteller*innen und kommt schnell ins Gespräch, z. B. darüber, warum die indonesische Gruppe nicht an der Eröffnung teilnehmen konnte. Der reguläre Flug konnte nicht starten, weil ein Teil des Luftraumes aufgrund der russischen Angriffe in der Ukraine vorübergehend gesperrt und eine Ausweichroute gebucht werden musste, erfahre ich. Ein beherztes Organisationsteam auf beiden Seiten hat es mit einigem Aufwand geschafft, dass ein Teil der Gruppe – mit leichter Verspätung – doch noch anreisen und performen konnte. Theaterleute können eben vor allem eines richtig gut: improvisieren!
Später besuche ich die estländische Aufführung. Die Gruppe „Eksperiment“ – der Name ist Programm – hat am Familiensonntag mit den Besucher*innen ein Kunstprojekt initiiert, das vor ihrem Auftritt im Kino-Foyer als Ausstellung Impulse für die Aufführung gibt. Ich bin fasziniert, dass das Ganze zusätzlich medial begleitet und in kleinen Filmsequenzen gespiegelt wird. Die Betrachtungen stimmen ein auf das Stück. „Warum ist Kunst in Kindheitserinnerungen oft negativ konnotiert, ist freier Selbstausdruck ein Privileg?“ Das Projekt wirft Fragen in Bezug auf pädagogische Formen kultureller, künstlerischer Bildung auf, die nachhallen.
Nach so vielen Denk-Impulsen ist wieder Zeit für eine Pause und ich setze mich willkürlich erneut an einen langen Holztisch, unter grünen Bäumen und blauem Himmel, jetzt aber in neuer Besetzung. Wir zufällig gemeinsam Pausierenden kommen ins Reden, Kommentieren, Fragenstellen – über die von den Gruppen unterschiedlich eingesetzten Mittel und Spielformen: Requisite, Lichtdesign, Musik, Kostüme, Tanztheater, Bewegungstheater, Schattenspiel, Sprechtheater. Die Themen, die Herangehensweisen sind so divers wie die Herkunftsländer der Gruppen. Sie werden manch‘ interessierten Theatergänger*innen verständlicher, wenn die Spielleiter*innen im publikumsoffenen „Director’s Forum“ tiefere Einblicke geben, z. B. über das Theater in der Favela Rocinha, dem größten Armenviertel im brasilianischen Rio de Janeiro. Mit Elementen des Kampftanzes Capoeira, der auch ein Symbol für den Widerstand und die Identität der afrobrasilianischen Bevölkerung ist, spiegeln die jungen Darsteller*innen von „Acorda Capoeira“ ihr Selbstvertrauen wider und bringen ihre Stärke und ihren Lebensmut zum Ausdruck. Ihre Performance ist eine ästhetische Symbiose aus Musik, (Kampf)Tanz und Spiel, die sie in der Heimat auch Tourist*innen präsentieren. Ihre künstlerische Ästhetik ist für sie Statement und wichtige Einnahmequelle zugleich.
Es zieht mich weiter nach Finnland. Auf ganz andere Weise werden Selbstvertrauen und Stärke beim finnischen Circus Helsinki zelebriert. Spielerisch, akrobatisch, mit Präzision und jeder Menge Bewegungsfreude nehmen die Jüngsten der etablierten Zirkusgruppe das Publikum mit auf eine innere Reise. Die circensische Geschichte soll Ängste der Kinder widerspiegeln und ihr Training, ihre Performance gegen Zukunftsangst, Stress und zu viel Verantwortung wirken. Die Leichtigkeit der Akrobatik und die überbordende Spielfreude, die von der Bühne ins Publikum herüberschwappen, wirken irgendwie befreiend.
Jetzt habe ich Lust auf einen Kaffee in Gesellschaft und setze mich erstmal irgendwo dazu. Aus dem Kaffee wird ein Essen, ein Wasser, ein Wein, … . Es wird fachgesimpelt, philosophiert, kritisiert, gelobt, … . Und ja, ich gebe es zu, auch ein wenig getratscht. Honi soit qui mal y pense.
Zu fortgeschrittener Stunde werden die Themen ernster. Es geht um Zukunftsängste: um das Gesundbleiben im Alter, um den Umgang mit dem Klimawandel, um Gaza, um die Ukraine und Russland, das auch so oft mit inspirierenden Inszenierungen beim WKT zu Gast war. Es geht um die Frage, welche Zukunft wir unseren Kindern und Enkelkindern hinterlassen. Und welche Rolle kann bei alledem das Theater spielen? Manchmal, so spüre ich, hilft es schon, sich mit Gleichgesinnten darüber auszutauschen und gemeinsam Hoffnung zu schöpfen – auch das ist Geselligkeit, oder besser: Das macht Geselligkeit aus.
Für mich fällt leider zwei Tage vor dem Festivalende der Vorhang. Bei meiner Abreise sehe ich noch, dass ein heftiger Sturm mit umstürzenden Bäumen den Festivalpark „Youtopia” zerstört hat. Ich bin aber überzeugt, dass Utopien weitergedacht werden und sich ganz schnell neue Geselligkeitsorte gefunden haben. Die Lingener Altstadt hat da viel zu bieten. Und ich nehme einen Gedanken mit: Geselligkeit ist keine Frage des Alters, der Herkunft oder der Sprache – sondern ein Stück zugewandte Menschlichkeit, die überall aufblühen kann, wo Menschen zusammen Theater machen. „We’re getting closer to each other…“
Das Festival wandert alle zwei Jahre durch die Welt und kehrt alle vier Jahre an seinen Gründungsort Lingen zurück. Ideengeber war Norbert Radermacher, damaliger Leiter des Theatpädagogischen Zentrums der Emsländischen Landschaft e. V. Gemeinsam mit John Ytteborg, dem damaligen Generalsekretär des Weltverbandes AITA/IATA, Irene Luitz aus den Niederlanden und Bernd Ruping, damals Mitarbeiter des TPZ Lingen, wurde das Konzept für das erste Theaterfestival für Kinder auf Weltebene entwickelt. Das Festival – mit Aufführungen, Spielleiter-Foren, Workshops, Paneldiskussionen und Festivalpark – wird in Zusammenarbeit mit der International Amateur Theatre Association (AITA/IATA) durchgeführt. Das nächste Festival findet 2027 in Belgien statt.
Noch tiefere Einblicke und Informationen zum Welt-Kindertheater-Fest bietet das kürzlich von Norbert Radermacher (BDAT-Ehrenpräsident) herausgegebene Buch „Kinder auf der Bühne“. Hier dokumentiert Rademacher das Welt-Kindertheater-Fest in der Zeit von 1990 bis 2025 thematisch und unterlegt seine Dokumentation mit zahlreichen visuellen Eindrücken rund um das WKT.