Schauspieler werden häufig als Einzelkämpfer wahrgenommen. Meine Erfahrung aus über fünf Jahrzehnten im Genthiner Amateurtheater, kurz gat, ist eine andere. Beim gat bilden Vertreter aus allen Generationen eine große Schauspieler-Familie – und genau das hat unsere Arbeit über all die Jahre getragen.
Als eines der ältesten Amateurtheater Sachsen-Anhalts spielt das gat seit 55 Spielzeiten. Gegründet 1971 als „Märchentruhe Genthin“, später fusioniert mit dem Dramatischen Zirkel des Waschmittelwerkes und seit 1987 unter dem heutigen Namen bekannt, ist das Theater über Jahrzehnte gewachsen. Fastnachtstücke des Hans-Sachs-Straßentheaters, die Valentinade im Februar und vor allem Märchen prägen unser Programm bis heute.
In Märchen geht es oft ziemlich ruppig zu. Da setzen die Eltern von Hänsel und Gretel ihre Kinder im dunklen Wald aus oder die Stiefmutter von Goldmarie lässt das Mädchen in einen Brunnen springen, um die Spule aus dem Wasser zu holen. Diese Härte gehört zu den klassischen Stoffen. Auf unserer Bühne haben wir jedoch immer darauf geachtet, den Märchen einen warmen Kern zu geben. Unsere heutigen Weihnachtsmärchen setzen bewusst auf Harmonie. Sie sollen verbinden, nicht erschrecken. Jahr für Jahr entlassen wir die Familien mit unseren Stücken in die märchenhafte Weihnachtszeit. In der Adventszeit gehen wir mit Darstellern, Requisiten und viel Engagement auf Tour durch kleinere Städte und Dörfer in Sachsen-Anhalt. Herzstück bleibt jedoch die Aufführung an Heiligabend in Genthin, die für viele längst zu einer festen Tradition geworden ist.
Was das gat besonders macht, ist das Zusammenspiel der Menschen. Bei Proben und Aufführen stehen oft ganze Familien gemeinsam hinter einem Projekt. Kinder spielen auf der Bühne, Eltern kümmern sich um Kostüme, Maske oder Technik. Diese Konstellationen sind kein Ausnahmefall, sondern ein gewachsenes Merkmal unseres Amateurtheaters. Sie schweißen zusammen – und sie prägen den besonderen Charakter unserer Aufführungen.
Diese Verbundenheit zeigt sich nicht nur während der Proben. Als große Schauspieler-Familie treffen wir uns regelmäßig auch außerhalb der Bühne. Vereinsstammtische ohne feste Themen, Premierenfeiern oder gemeinsame Ausflüge gehören für mich genauso zum Theaterleben wie Texte lernen oder Kulissen bauen. Geselligkeit war immer Teil unserer Arbeit – und man merkt es den Darstellern an, wenn sie gemeinsam auf der Bühne stehen.
Natürlich mussten wir immer wieder improvisieren. Nach der Schließung des Stadtkulturhauses standen uns nur noch kleine Bühnen, weniger Zuschauerplätze und weniger Equipment zur Verfügung. Doch wir haben uns davon nicht unterkriegen lassen. Regelmäßig ausverkaufte Spielstätten zeigen, dass unser Märchenkonzept auch unter veränderten Bedingungen trägt. Zum sympathisch Unperfekten gehört beim Amateurtheater das Improvisieren – und genau darin liegt oft unsere Stärke.
Hinter dem Vorhang arbeitet ein ebenso engagiertes Ensemble wie auf der Bühne. Techniker, Maske, Inspizienz und Organisation sorgen dafür, dass alles zusammenläuft. Geprobt wird ab September mehrmals wöchentlich, abends, in viel zu kleinen Räumen. Über Jahrzehnte haben viele von uns ihr privates Leben um die Auftritte herum gebaut. Theater war nie nur ein einfaches Hobby, sondern ein fester Bestandteil des Alltags.
Inzwischen habe ich die Leitung des gat an die nächste Generation weitergegeben. Junge Talente stehen heute auf der Märchenbühne, erfahrene Darsteller geben ihre Routine weiter. Uns fehlt manchmal das sogenannte Mittelalter, weil Ausbildung, Studium oder andere Prioritäten dazwischenkommen. Doch die nächste Generation wächst heran – so, wie es Tradition bei uns in Genthin ist.
Wenn ich heute auf das gat blicke, sehe ich mehr als 55 Spielzeiten. Ich sehe Geselligkeit, Zusammenhalt und viele kleine Familien, die gemeinsam ein großes Theater bilden. Genau das hat das gat all die Jahre ausgemacht – und genau darin liegt seine Zukunft.