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BDAT-Blog

Auf, auf, jetzt geht´s nach Tyumen
Ich packe meinen Koffer und nehme mit: eine Winterjacke, dicke Socken, Handschuhe, eine Mütze, eine Sonnenbrille. Am 28. Februar hieß das Reiseziel Tyumen, Sibirien. Zwischenstopp Moskau. Im Sommer dreißig Grad plus, im Winter bis zu dreißig Grad minus. Wir hatten Glück. Im März herrschen angenehme Temperaturen zwischen minus zehn und Null Grad. Eine Vertretung des Bundesarbeitskreises Kinder- und Jugendtheater besuchte die sibirische Stadt Tyumen. Anfang März fand in der, noch unbekannten, Stadt das Theaterfestival „Theatre Revolution“, ein europäisches Jugendtheaterfest, statt.
Wir reisten in einem Gespann von sechs Personen. Simon Isser, der Präsident des BDAT, Stephan Schnell, Bildungsreferent des BDAT, Darina Startseva, die dort unter anderem für den deutsch-russischen Jugendaustausch zuständig ist. Nicht zu vergessen: sie stammt aus Russland und hat uns mit ihren Sprachkenntnissen erfolgreich durch die fremde Kultur geleitet. Mit dabei waren auch Frank Grühnert, Vorsitzender des Brandenburgischen Amateurtheaterverbandes, Christian Schröter, Theaterpädagoge und Pantomime-Darsteller und ich, Hannah Schäfer, lebenslanges Mitglied im Saarländischen Amateurtheater.
Vor Ort gab es mehrere Jugendtheatergruppen, aber wir reisten ins verschneite Tyumen, um uns mit einer bestimmten Truppe auszutauschen. Der deutsch-russische Jugendaustausch fand zwischen dem Theater BYT und uns statt. Die Jugendlichen nahmen mit dem Stück „Oh you, Vanya“ teil. Der Inhalt wurde inspiriert von einer wahren Geschichte, dem Leben der Großmutter des Regisseurs Artiom.
Während unseres Aufenthaltes durften wir aktiv Einblick in die russische Kultur nehmen. Die Jugendlichen der Theatergruppe erleichterte uns durch ihre Offenheit und Begeisterung dein Einstieg in diese fremden Gewässer. Angereist, ohne einen Plan über die Zeit des Aufenthaltes zu haben, gestalteten die Organisatoren ein Festivalprogramm, bei dem keine Langeweile aufkommen konnte. Unsere Austauschgruppe nutzte die Pausen im Programm, um uns die russische Kultur näher zu bringen. So kochten, aßen und spielten wir gemeinsam in der Wohnung einer Spielerin, bastelten in einer typisch russischen Hochschule folkloristische Puppen, mit denen jedes Kind gespielt hat, genannt Babba, und besuchten gemeinsam Lokale der Jugendszene.
Insgesamt muss ich sagen, dass mir die Rituale und die Verbundenheit der Russen zu ihren Traditionen sehr im Gedächtnis geblieben sind. Gleichzeitig denkt man über die eigene Identität nach. Es ist zum Beispiel Tradition, gemeinsam zu singen, wenn man zusammen gegessen hat. Ohne nachdenken zu müssen, stimmten die Jugendlichen das gleiche Lied an. Unsere Delegation musste einige Blicke wechseln bis wir ein deutsches Lied fanden, das wir alle kannten. Dies war, wie könnte es bei Theaterleuten anders sein, die Moritat von Mackie Messer aus der „Dreigroschenoper“ von Berthold Brecht.
Nicht nur der Alltag, sondern auch die Theaterarbeit ist von Traditionen und Hierarchien geprägt. Die Jugendlichen stehen in einem sehr respektvollen Verhältnis zu ihrem Regisseur und reden ihn mit dem Namen des Vaters an. Das ist eine Form, respektvoll miteinander umzugehen. Außerdem muss man, bevor man in einem Stück mitspielen darf, ein Probezeit durchlaufen. In dieser Zeit lernt man von den Älteren.
Neben unserer Austauschgruppe fanden noch andere Spielgemeinschaften den Weg nach Tyumen. Französische, slowakische, tschechische, dänische und deutsche Amateure präsentierten ihre Arbeit im Rahmen des Programms und gestalteten die Zeit sehr spannend. Erstaunlich war auch das breite Inhaltsspektrum. Egal, ob spielerisch, mit Worten, übersetzt und in der heimischen Sprache oder durch Tanz erzählt wurde, das Publikum wurde berührt. Thematisch wurden Themen der Jugendlichen aufgegriffen, das reichte von der Genderproblematik im Alltag bis hin zu der Frage der Identität der eigenen Nation in einer Kriegssituation. Märchenhafte und abenteuerliche Stoffe der Literatur wurden adaptiert, aber auch selbstentwickelte Stücke bekamen wir zu sehen.
Ganz Tyumen stand Kopf. Man merkte beim Spaziergang durch die Stadt, dass das Festival nicht beim Verlassen des Theaters aufhört. An Anschlagtafeln, im Radio, von Überallher kamen die Informationen über die Vorgänge bei der Theaterrevolution. Und selbst jetzt in Deutschland verlässt mich das Festival nicht. Die Organisatoren haben eine Facebook-Seite ins Leben gerufen, auf der man alle Bilder ansehen kann, die während des Festivals geschossen wurden. Ein Theatererlebnis, das selbst über die Grenzen hin verbindet.
Insgesamt kann ich sagen, dass wir unsere Aufgabe, einen Kulturaustausch zu betreiben, sehr ernst genommen haben. Kontakte wurden nicht nur mit unserer Austauschgruppe, sondern mit allen Teilnehmern des Festivals geknüpft. Gespräche über die Arbeit in ihren Gruppen, Herangehensweisen an verschiedene Themen, aber auch das Leben in ihrer Heimat wurden angeregt geführt. Leider war die Zeit unser Feind, sodass wir die wirklich interessanten Themen, wie Politik nur anschneiden und nicht tiefer eintauchen konnten. Aber dann war es vielleicht nicht der richtige Moment und die richtige Zeit.
Unser Austausch hört nicht mit dem Abflug der deutschen Delegation auf. Für den November ist ein Rückbesuch der russischen Gruppe geplant. Wir tüfteln noch an den Örtlichkeiten und dem Programm, versuchen aber, den russischen Kollegen gerecht zu werden und ihnen einen Einblick in die deutsche Theater- und Alltagskultur zu gewähren.
In jedem Fall kehren wir mit allen Zehen und Fingern zurück. Wir haben keinen Teilnehmer im verschneiten Russland verloren und freuen uns auf eine ergebnisreiche Zeit mit unseren neugefundenen Freunden.
Hannah Schäfer