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BDAT-Blog

Auf, auf, jetzt geht´s nach Tyumen
27. Mrz // 2017

Auf, auf, jetzt geht´s nach Tyumen

Ich packe mei­nen Kof­fer und nehme mit: eine Win­ter­ja­cke, dicke Socken, Hand­schu­he, eine Mütze, eine Son­nen­bril­le.  Am 28. Febru­ar hieß das Rei­se­ziel Tyu­men, Sibi­ri­en. Zwi­schen­stopp Mos­kau. Im Som­mer drei­ßig Grad plus, im Win­ter bis zu drei­ßig Grad minus. Wir hat­ten Glück. Im März herr­schen ange­neh­me Tem­pe­ra­tu­ren zwi­schen minus zehn und Null Grad. Eine Ver­tre­tung des Bun­des­ar­beits­krei­ses Kinder- und Jugend­thea­ter besuch­te die sibi­ri­sche Stadt Tyu­men. Anfang März fand in der, noch unbe­kann­ten, Stadt das Thea­ter­fes­ti­val „Theat­re Revo­lu­ti­on“, ein euro­päi­sches Jugend­thea­ter­fest, statt.

Wir reis­ten in einem Gespann von sechs Per­so­nen. Simon Isser, der Prä­si­dent des BDAT, Ste­phan Schnell, Bil­dungs­re­fe­rent des BDAT, Dar­i­na Start­s­eva, die dort unter ande­rem für den deutsch-russischen Jugend­aus­tausch zustän­dig ist. Nicht zu ver­ges­sen: sie stammt aus Russ­land und hat uns mit ihren Sprach­kennt­nis­sen erfolg­reich durch die frem­de Kul­tur gelei­tet. Mit dabei waren auch Frank Grüh­nert, Vor­sit­zen­der des Bran­den­bur­gi­schen Ama­teur­thea­ter­ver­ban­des, Christian Schrö­ter, Thea­ter­päd­ago­ge und Pantomime-Darsteller und ich, Han­nah Schä­fer, lebens­lan­ges Mit­glied im Saar­län­di­schen Amateurtheater.

Vor Ort gab es meh­re­re Jugend­thea­ter­grup­pen, aber wir reis­ten ins ver­schnei­te Tyu­men, um uns mit einer bestimm­ten Trup­pe aus­zu­tau­schen. Der deutsch-russische Jugend­aus­tausch fand zwi­schen dem Thea­ter BYT und uns statt. Die Jugend­li­chen nah­men mit dem Stück „Oh you, Vanya“ teil. Der Inhalt wurde inspi­riert von einer wah­ren Geschich­te, dem Leben der Groß­mutter des Regis­seurs Artiom.

Wäh­rend unse­res Auf­ent­hal­tes durf­ten wir aktiv Ein­blick in die rus­si­sche Kul­tur neh­men. Die Jugend­li­chen der Thea­ter­grup­pe erleich­ter­te uns durch ihre Offen­heit und Begeis­te­rung dein Ein­stieg in diese frem­den Gewäs­ser. Ange­reist, ohne einen Plan über die Zeit des Auf­ent­hal­tes zu haben, gestal­te­ten die Orga­ni­sa­to­ren ein Fes­ti­val­pro­gramm, bei dem keine Lan­ge­wei­le auf­kom­men konn­te. Unse­re Aus­tausch­grup­pe nutz­te die Pau­sen im Pro­gramm, um uns die rus­si­sche Kul­tur näher zu brin­gen. So koch­ten, aßen und spiel­ten wir gemein­sam in der Woh­nung einer Spie­le­rin, bas­tel­ten in einer typisch rus­si­schen Hoch­schu­le folk­lo­ris­ti­sche Pup­pen, mit denen jedes Kind gespielt hat, genannt Babba, und besuch­ten gemein­sam Loka­le der Jugendszene.

Ins­ge­samt muss ich sagen, dass mir die Ritua­le und die Ver­bun­den­heit der Rus­sen zu ihren Tra­di­tio­nen sehr im Gedächt­nis geblie­ben sind. Gleich­zei­tig denkt man über die eige­ne Iden­ti­tät nach. Es ist zum Bei­spiel Tra­di­ti­on, gemein­sam zu sin­gen, wenn man zusam­men geges­sen hat. Ohne nach­den­ken zu müs­sen, stimm­ten die Jugend­li­chen das glei­che Lied an. Unse­re Dele­ga­ti­on muss­te eini­ge Bli­cke wech­seln bis wir ein deut­sches Lied fan­den, das wir alle kann­ten. Dies war, wie könn­te es bei Thea­ter­leu­ten anders sein, die Moritat von Mackie Messer aus der „Drei­gro­schen­oper“ von Bert­hold Brecht.

Nicht nur der All­tag, son­dern auch die Thea­ter­ar­beit ist von Tra­di­tio­nen und Hier­ar­chien geprägt. Die Jugend­li­chen ste­hen in einem sehr respekt­vol­len Ver­hält­nis zu ihrem Regis­seur und reden ihn mit dem Namen des Vaters an. Das ist eine Form, respekt­voll mit­ein­an­der umzu­ge­hen. Außer­dem muss man, bevor man in einem Stück mit­spie­len darf, ein Pro­be­zeit durch­lau­fen. In die­ser Zeit lernt man von den Älteren.

Neben unse­rer Aus­tausch­grup­pe fan­den noch ande­re Spiel­ge­mein­schaf­ten den Weg nach Tyu­men. Fran­zö­si­sche, slo­wa­ki­sche, tsche­chi­sche, däni­sche und deut­sche Ama­teu­re prä­sen­tier­ten ihre Arbeit im Rah­men des Pro­gramms und gestal­te­ten die Zeit sehr span­nend. Erstaun­lich war auch das brei­te Inhalts­spek­trum. Egal, ob spie­le­risch, mit Wor­ten, über­setzt und in der hei­mi­schen Spra­che oder durch Tanz erzählt wurde, das Publi­kum wurde berührt. The­ma­tisch wur­den The­men der Jugend­li­chen auf­ge­grif­fen, das reich­te von der Gen­der­pro­ble­ma­tik im All­tag bis hin zu der Frage der Iden­ti­tät der eige­nen Nati­on in einer Kriegs­si­tua­ti­on. Mär­chen­haf­te und aben­teu­er­li­che Stof­fe der Lite­ra­tur wur­den adap­tiert, aber auch selbst­ent­wi­ckel­te Stü­cke beka­men wir zu sehen.

Ganz Tyu­men stand Kopf. Man merk­te beim Spa­zier­gang durch die Stadt, dass das Fes­ti­val nicht beim Ver­las­sen des Thea­ters auf­hört. An Anschlag­ta­feln, im Radio, von Über­all­her kamen die Infor­ma­tio­nen über die Vor­gän­ge bei der Thea­ter­re­vo­lu­ti­on. Und selbst jetzt in Deutsch­land ver­lässt mich das Fes­ti­val nicht. Die Orga­ni­sa­to­ren haben eine Facebook-Seite ins Leben geru­fen, auf der man alle Bil­der anse­hen kann, die wäh­rend des Fes­ti­vals geschos­sen wur­den. Ein Thea­ter­er­leb­nis, das selbst über die Gren­zen hin verbindet.

Ins­ge­samt kann ich sagen, dass wir unse­re Auf­ga­be, einen Kul­tur­aus­tausch zu betrei­ben, sehr ernst genom­men haben. Kon­tak­te wur­den nicht nur mit unse­rer Aus­tausch­grup­pe, son­dern mit allen Teil­neh­mern des Fes­ti­vals geknüpft. Gesprä­che über die Arbeit in ihren Grup­pen, Her­an­ge­hens­wei­sen an ver­schie­de­ne The­men, aber auch das Leben in ihrer Hei­mat wur­den ange­regt geführt. Lei­der war die Zeit unser Feind, sodass wir die wirk­lich inter­es­san­ten The­men, wie Poli­tik nur anschnei­den und nicht tie­fer ein­tau­chen konn­ten. Aber dann war es viel­leicht nicht der rich­ti­ge Moment und die rich­ti­ge Zeit.

Unser Aus­tausch hört nicht mit dem Abflug der deut­schen Dele­ga­ti­on auf. Für den Novem­ber ist ein Rück­be­such der rus­si­schen Grup­pe geplant. Wir tüf­teln noch an den Ört­lich­kei­ten und dem Pro­gramm, ver­su­chen aber, den rus­si­schen Kol­le­gen gerecht zu wer­den und ihnen einen Ein­blick in die deut­sche Theater- und All­tags­kul­tur zu gewähren.

In jedem Fall keh­ren wir mit allen Zehen und Fin­gern zurück. Wir haben kei­nen Teil­neh­mer im ver­schnei­ten Russ­land ver­lo­ren und freu­en uns auf eine ergeb­nis­rei­che Zeit mit unse­ren neu­ge­fun­de­nen Freunden.

Han­nah Schäfer